Heute Nachmittag (7. Oktober 2020) hatte ich die Freude, zusammen mit fünf Wissenschaftskolleg*innen und UN-Expert*innen (Hannah Birkenkötter, Nicole Deitelhoff, Manuel Fröhlich, Carlo Masala, Hans-Christof von Sponeck) im Unterausschuss Vereinte Nationen des Deutschen Bundestages mit den Abgeordneten über Lehren und Schlussfolgerungen aus 75 Jahren Vereinte Nationen zu diskutieren. Die Debatte ist auf der Bundestags-Webseite auch schön zusammengefasst.
Da wir nur 7 Minuten für das Eingangsstatement hatten, habe ich meine Gedanken tatsächlich mal in ein auf die Zeit getacktetes Redemanuskript geschrieben, an das ich mich auch einigermaßen gehalten habe.
Der reine Text meines Manuskripts ist unten wiedergegeben. Es gibt auch eine PDF-Fassung mit Fußnoten und Quellenangaben, die ich dem Unterausschuss vorab zur Verfügung gestellt habe. (An English translation of the speech in the UN subcommittee is available here.).
Die Aufzeichnung der ganzen zwei Stunden der Anhörung kann man hier anschauen. Mein gesprochenes Statement kommt ca. bei Minute 39:30.
Hier die Schriftfassung:
Sehr geehrter Herr Vorsitzender, sehr geehrte Abgeordnete, liebe Kollegïnnen,
ich möchte mit Blick auf die Frage, die Sie uns Sachverständigen gestellt haben, vier zentrale Lehren aus der Forschung zu den Vereinten Nationen als System fragmentierten globalen Regierens ziehen und einige Schlussfolgerungen formulieren.
Diese sind durch vielfältige Erkenntnisse gedeckt, die Wissenschafts-Kollegïnnen aus unterschiedlichen Disziplinen, national und international, zusammengetragen haben. Die Lehren und Schlussfolgerungen sind für diesen Rahmen etwas zugespitzt. Zentrale Quellen für meine heutigen Aussagen finden sich in der verschriftlichten Stellungnahme.
Meine eigenen Forschungen haben sich dabei in den vergangenen sechs Jahren insbesondere auf die Budgetierung und die Finanzierung des UN-Systems fokussiert, sowie auf die Rolle von UN-Verwaltungen bei der Mittelbeschaffung und bei der Organisation von Haushalts- und Reformprozessen.
Vorweg sei gesagt, dass, wenn ich von den „Vereinten Nationen“ spreche, ich mich vor allem auf das UN-System in seiner Gesamtheit beziehe. Dieses System ist ein historisch gewachsenes, immer stärker fragmentiertes Netzwerk aus mehreren Duzend internationalen Organisationen, zwischenstaatlichen Verhandlungsarenen, Expertïnnen-Gremien, Militär- und nicht-militärischen Operationen, Finanzierungs-Mechanismen und einer Vielzahl internationaler Verwaltungseinheiten. Diese sind teilweise oder vollständig unabhängig aber häufig juristisch, finanziell und/oder personell miteinander verwoben.
Verbindungen zwischen den Teilen des UN-System bestehen auf globaler, auf regionaler und auf nationaler Ebene sowie „im Feld“. Oft ergeben sich diese Verbindungen politikfeldspezifisch, also zum Beispiel im Bereich „Globale Gesundheit“. Diese Mehrebenen-Netzwerke des UN-System haben sich seit den Anfängen der UN entwickelt, zum Teil bestehen sie auch schon länger.
Nicht umsonst spricht der UN-Generalsekretär António Guterres neuerdings in seinen Reden von einem „networked multilateralism“.
Die 1. Lehre für diese Stellungnahme ist daher, dass man die Vereinten Nationen nach 75 Jahren nur versteht, wenn man sie als diplomatisch und administrativ vernetztes und organisch gewachsenes Gesamtsystem betrachtet.
Die wichtigste Schlussfolgerung aus dieser Erkenntnis ist, dass jeder Versuch, einen Teil des UN-Systems zu verändern immer auch Auswirkungen auf andere Teile hat. Manches Scheitern von einzelnen UN-Organisationen ist deshalb auch systemisch bedingt und hat nur wenig mit Einzel-Organisationsversagen zu tun. Sie sollten das als Politik bei Ihrer Bewertung der Arbeit der UN im Blick behalten.
Zum Teil muss man allerdings bis in den Völkerbund zurückgehen, um die heutigen Strukturen und Prozesse im UN-System zu verstehen, also die Prozesse, die möglicherweise reformiert werden sollen.
Das bringt mich zur 2. Lehre aus der Forschung der letzten Jahre: Die Vereinten Nationen sind nicht erst 75 Jahre alt, sondern einzelne zentrale Bereiche, und auch ihre Verbindungen untereinander, sind bis zu 100 Jahre alt oder sogar älter.
Insbesondere organisatorisch und administrativ sind die UN durch den Völkerbund und, bei den technischen UN-Organisationen (wie ITU, UPU oder WIPO), auch noch durch Strukturen aus dem 19. Jahrhundert vorgeprägt.
So ist zum Beispiel der heutige Haushaltsprozess für den UN-Kernhaushalt im Prinzip noch der gleiche wie schon im Völkerbund — und ähnlich schwierig. Die Völkerbund-Gesundheitsorganisation (LNHO) war schon in den 1920ern für ihre Aktivitäten von privaten Philanthropen aus den USA finanziell abhängig, so wie es die WHO heute wieder ist. Netzwerkstrukturen der „intellektuellen Kooperation“ legten im Kontext des Völkerbunds die Grundlage für die spätere UNESCO. Und selbst das Internationale Nansen-Büro für Flüchtlinge hatte bereits im Völkerbund Organisationsstrukturen, die später auch den UNHCR prägten.
Als etwas unbequeme Schlussfolgerung folgt daraus für Sie als Politikerïnnen, dass viele heutige Reformbemühungen im UN-System aus wissenschaftlicher Sicht eher zum Scheitern verurteilt sind, weil sie auf lange gewachsene Pfadabhängigkeiten sowie stabile und komplex vernetzte Interessenkonstellationen treffen. Es gibt auch bei der Vereinten Nationen die klassische Politikverflechtungsfalle.
Aber, um diese Schlussfolgerung etwas positiver zu formulieren: Für UN-Reformen braucht es vor allem synchronisierte Anstrengungen von einer großen Staatenmehrheit unter Einbindung der betroffenen UN-Bürokratien, um diese gewachsenen Strukturen der UN zu verändern. Minilateralismus in Form von kleinen und exklusiven Reform-Initiativen reicht dafür nicht aus.
Diese Bemerkungen führen mich zur 3. Lehre: Fragmentierung und damit letztendlich Bürokratisierung im UN-System sind häufig Ergebnis von wohlgemeinten minilateralen Vorhaben, durch die nationale Politikerïnnen lieber eigene politische Steckenpferde in die UN hineintragen als in den globalen multilateralen Mühlen nach schwierigen Kompromissen zu suchen.
Ein Grund dafür ist, dass insbesondere die Länder des Globalen Nordens, also die wichtigsten Geldgeber des UN-System, sich bis heute nicht ernsthaft damit abfinden, dass postkolonialer globaler Multilateralismus heißt, dass die Länder des Global Südens (z.T. repräsentiert durch die G77) die Mehrheit der Staaten auf dieser Welt stellen. Viele dieser Länder haben eine Kolonialgeschichte und schauen deshalb auch mit bestimmten Erwartungen auf die Vereinten Nationen. Aber statt Kompromisse zu suchen, die diese Mehrheitsverhältnisse repräsentieren, finanzieren die westlichen Geldgeber lieber minilaterale Sonderprogramme, Nebeninstitutionen, Multi-Donor-Trust-Funds und sonstige pressewirksame Leuchturmprojekte, häufig über eng zweckgebundene Mittel.
Die Schlussfolgerung aus dieser Erkenntnis ist, dass die Zukunft der Vereinten Nationen auch davon abhängt, ob und wann diese minilateralen Reflexe enden. Bis zu diesem Zeitpunkt werden sich der Globale Süden—also die globale Mehrheitsgesellschaft—und der Global Norden—die Finanzierungsmehrheit—einigermaßen reformunfähig oder -unwillig in der UN gegenüberstehen.
Die gute Nachricht bei all dem ist, und das ist dann die 4. Lehre: Während sich der globale Multilateralismus der Staaten in einer Reihe von Sackgassen zu befinden scheint, machen die meisten UN-Verwaltungen trotzdem ihre Arbeit.
Sie nutzen die Autonomie, die sie haben, um globale Politik zu gestalten und Lösungen für dringende Probleme wie Klimawandel, Flucht und Vertreibung, oder globale Pandemien zu finden oder voranzutreiben.
Sie sind es, die das pathologisch widersprüchliche Verhalten der Staatengemeinschaft in praktisches globales Handeln umsetzen müssen.
Sie machen ihre Arbeit selbst dann, wenn ihnen die Staaten regelmäßig in multilateralen Gremien oder durch zweckgebundene Finanzierungsanreize widersprüchliche Signale senden, und sie tun das in Genf und New York genauso wie in Yarmouk in Syrien oder in der Kivu-Region in der Demokratischen Republik Kongo.
Vielleicht—und das ist meine provokante abschließende Schlussfolgerung—sollten die Mitgliedsstaaten der UN, und insbesondere die großen Geldgeber, die UN-Verwaltungen häufiger einfach ihre Arbeit machen lassen. Damit wäre der UN im 75. Jahr vielleicht mehr geholfen, als sie mit permanentem kollektivem Micro-Management zu traktieren oder mit neuen minilateralen Initiativen weiter zu fragmentieren.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
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